Leseproben Prosaübersetzungen

Aus: Aebi, Ernst, Ein Makkaronibaum in der Sahara. Droemer Knaur (1995). Tb: Ein Garten in der Wüste. Von einem, der auszog, eine Oase zu retten. Droemer-Knaur (1997)
Orig.: Seasons of Sand. Simon & Schuster (1993)

Alle unsere Vorräte steckten in der Wüste fest, und der Lastwagen sowie die Mannschaft wurden tageweise von mir bezahlt. Ich belud den Landrover mit einigen Kanistern Diesel und fuhr zu dem Lastwagen zurück. Als der Fahrer noch mehr Geld verlangte, da die Fahrt sehr viel teurer sei, als er angenommen habe, bekam ich einen fürchterlichen Wutanfall. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er unterwegs darüber nachgegrübelt hatte, wie ich, die Milchkuh, noch weiter zu melken sei. Ich brüllte: „In welchem Hotel bist du beschissener Bastard denn abgestiegen, im verdammten Sahara-Hilton?“ Die Adern schwollen mir, als ich schrie: „Frag mich nach einem einzigen Scheißfranc mehr, und ich polier dir die Fresse!“

Soviel zur Lektion „Wie gewinne ich die Zuneigung meiner Mitarbeiter“. Doch mein Ausbruch verfehlte seine Wirkung nicht; als der Lastwagenfahrer später seine Heimreise antrat, hatte er wohl wunderbarerweise noch einen Reservekanister in seinem Fahrzeug gefunden, denn für die Rückfahrt wollte er nichts weiter haben.

Nun stand ich vor der Aufgabe, die Lebensmittel an die Leute zu verteilen. Ich hatte nicht vor, alle Hungernden, die ich fand, mit Almosen zu versorgen – Afrika war zu groß, um allein von mir ernährt zu werden. Ich wollte nur den Personen Nahrungsmittel geben, die bereit waren zu arbeiten; zunächst aber mußten sie zu Kräften kommen. Ich wies jeden an, der beim Anlegen des Gartens helfen wollte, sich in meinem Haus zu melden und als Gegenleistung eine Lebensmittelration abzuholen.

Beim Umfüllen von Hirse, Maismehl und Baobabpulver wurde mein Zimmer in eine solche Staubwolke gehüllt, daß ich kaum noch etwas sehen konnte. Etwa fünfundvierzig Menschen kamen, um ihre Ration in Empfang zu nehmen; scheu flüsterten sie ihr Dankeschön auf Songhai und wagten kaum, mich anzusehen, als sie mir ihre Tassen und Pfannen entgegenhielten. Bou-djema war natürlich da, um mir beizustehen. Bald war sein Gesicht eine geisterhaft weiße Maske mit großen rotgeränderten Augen. Ernst und konzentriert maß er die Portionen ab.

Aus: Oakley, Barbara, Biologie des Bösen. Spektrum Akademischer Verlag (2008)
Orig.: Evil Genes. Why Rome Fell, Hitler Rose, Enron Failed, and My Sister Stole My Mother’s Boyfriend. Prometheus Books (2007)

So viele Jahre habe ich das Phantom Carolyn gejagt. Jetzt, wo ich ihren verzerrten neurologischen Strukturen nachgespürt habe, verstehe ich besser, welches Leben meine Schwester geführt hat. Besaß sie eine tief verwurzelte genetische Veranlagung für ihr finsteres Verhalten? Gut möglich. Verstärkte die Polioerkrankung ihre Instabilität? So gut wie sicher. Trank sie, um das Vakuum, das ihre kurzlebigen, schlecht funktionierenden Neurotransmitter hervorriefen, zu füllen, und trug dies zu ihren Verhaltensstörungen und ihrer Magersucht bei? Auf jeden Fall.

Wie lautet letztendlich Carolyns psychiatrische Diagnose? Vielleicht spielt das keine Rolle. Schließlich sind „Borderline-Persönlichkeitsstörung“, „Psychopathie“ und alle möglichen anderen Diagnosen nur Wörter, mit denen wir mehr schlecht als recht die komplexen Prozesse zu beschreiben versuchen, die bei der Entwicklung eines dysfunktionalen Gehirns im Zusammenspiel von Vererbung und Erziehung ablaufen.

Kann ich Carolyn verzeihen?

Beim Schreiben dieses Buches ist in mir ganz sicher ein Mitgefühl erwacht, das ich nie zuvor empfunden habe. Ich verstehe jetzt einige der neurologischen und genetischen Absonderlichkeiten, die Carolyn unkontrolliert in die eine oder andere Richtung trieben, auch wenn sie es bewusst anders wahrgenommen haben mag. Doch ich weiß auch, wenn Carolyn durch irgendeinen übersinnlichen Trick wieder zum Leben erweckt würde und in meinem Wohnzimmer lächelnd mit einem meiner Kinder spielte, hätte ich tief in mir das Gefühl, ich müsste meine Kinder vor einer Schlange warnen.

Aus: Wolf, Maryanne, Das lesende Gehirn. Spektrum Akademischer Verlag (2009)
Orig.: Proust and the Squid. The Story and Science of the Reading Brain.  Harper Perennial (2007)

Das flüssig lesende Gehirn hat seine eigene Expedition zu bewältigen. Nicht nur seine Fähigkeit zu decodieren und zu verstehen nimmt zu; es fühlt auch differenzierter als je zuvor. Nach David Rose, der sich mit der Anwendung theoretischer Neurowissenschaft in der Bildungstechnologie einen Namen gemacht hat, bestehen die drei Hauptaufgaben des lesenden Gehirns im Erkennen von Mustern, Planen von Strategien und Fühlen. Jede bildgebende Darstellung eines Menschen beim flüssigen, verstehenden Lesen zeigt dies deutlich in der zunehmenden Aktivierung des limbischen Systems – dem Sitz unseres Gefühlslebens – und seinen Verbindungen zur Kognition. Dieses System, das direkt unter der obersten Hirnrindenschicht liegt, ist verantwortlich für unser Vermögen, als Reaktion auf eine Lektüre Vergnügen, Ekel, Entsetzen und Glückseligkeit zu empfinden sowie zu verstehen, wie es Frodo, Huck und Anna Karenina ergeht. Wie David Rose anmerkt, hilft uns das limbische System, beim Lesen Prioritäten zu setzen und das Gelesene zu bewerten. Aufgrund dieser affektiven Leistung werden unsere Aufmerksamkeits- und Verständnisprozesse entweder aktiviert oder deaktiviert.

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Beim flüssigen Lesen muss das Gehirn weniger Mühe investieren, weil seine spezialisierten Regionen gelernt haben, Repräsentationen für die wichtigen visuellen, phonologischen und semantischen Informationen zu erzeugen und diese blitzschnell abzurufen. Laut Ken Pugh, Rebecca Sandak und Neurowissenschaftlern am Haskins Laboratory in Yale sowie in Georgetown wird im Gehirn junger Leser, die lernen, flüssig zu lesen, die bihemisphärische Aktivierung durch ein effizienteres System in der linken Hemisphäre ersetzt (das man manchmal als ventrale oder untere Route bezeichnet). Der Ausgangspunkt dieser Bahn des flüssigen Lesens sind stärker konzentrierte und spezialisierte visuelle und okzipital-temporale Regionen als die, die von jüngeren Kindern genutzt werden. Danach verläuft die Bahn durch die unteren und mittleren temporalen bis zu den frontalen Regionen. Kennen wir ein Wort erst einmal sehr gut, brauchen wir es nicht mehr unter großen Anstrengungen zu analysieren. Unsere gespeicherten Repräsentationen für Buchstabenmuster und Wörter, insbesondere in der linken Hemisphäre, aktivieren ein schnelleres System.

(Das lesende Gehirn wurde 2010 als eines von 804 eingesendeten Büchern in die Shortlist für den NDR Kultur Sachbuchpreis aufgenommen.)